Auf der Suche nach der Weisheit des Alters

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Vielleicht haben Sie selbst schon bemerkt, dass Sie im Alter anders über Dinge nachdenken als früher. Dass Sie mehr Geduld haben, wenn es um Konflikte geht. Manch eine:r spricht hier von der sogenannten Altersweisheit. Aber gibt es so etwas überhaupt? Wir gehen der Frage nach, ob wir tatsächlich mit dem Alter weiser werden.

«60 Jahre und kein bisschen weise», sang einst Curd Jürgens, während Ernest Hemingway behauptete: «Altersweisheit gibt es nicht. Wenn man altert, wird man nicht weise, sondern nur vorsichtig.» Doch was ist dran an diesen Aussagen? Können wir mit den Jahren weiser werden, oder bleibt Weisheit ein rätselhaftes Gut, das nur wenigen vorbehalten ist?

Weisheit ist mehr als Wissen

Dr. Paul Baltes († 2006), ein Pionier der Weisheitspsychologie am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, definierte Weisheit als «die Fähigkeit, komplexe Lebensprobleme zu erkennen und konstruktiv zu bewältigen». Dies umfasst sowohl ein tiefes Verständnis für grundlegende Lebensfragen, als auch die Flexibilität im Umgang mit Veränderungen und Unsicherheiten.

In Studien untersuchten Baltes und bis heute wissenschaftliche Kolleg:innen weltweit, ob es einen Zusammenhang zwischen Lebenserfahrung und der Fähigkeit gibt, kluge und ausgewogene Entscheidungen zu treffen. Können ältere Menschen wirklich besser mit Konflikten umgehen? Und wie beeinflussen persönliche Werte und kulturelle Prägungen unser Verständnis von Weisheit?

Ältere Menschen können klügere Entscheidungen treffen

Untersuchungen wie sie von Igor Grossmann und seinem Team an der University of Michigan durchgeführt wurden, zeigen, dass ältere Menschen oft in der Lage sind, ein ausgewogeneres Urteil zu fällen als ihre jüngeren Mitmenschen. Diese Fähigkeit, komplexe Situationen aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und Unsicherheiten anzuerkennen, ist ein zentraler Bestandteil dessen, was wir als Weisheit bezeichnen.

Ein Beispiel aus den Studien sind fiktive Konfliktszenarien, in denen ältere Teilnehmer dazu neigen, vorsichtigere und nuanciertere Einschätzungen abzugeben als jüngere Probanden. Dies deutet darauf hin, dass mit dem Alter eine verbesserte Fähigkeit zur Problemlösung und Konfliktbewältigung einhergeht, unabhängig von Bildung oder sozioökonomischem Status.

Dr. Paul Baltes war Teil des Teams, welches die Berliner Altersstudie II (BASE-II) aufgleiste und durchführte. Mehr zur Studie finden Sie in unserem Artikel Sexualität im Alter: Was die Wissenschaft zu unseren Bedürfnissen sagt

Wie Werte und Kultur unser Verständnis von Weisheit beeinflussen

Ursula M. Staudinger, Direktorin des Robert N. Butler Columbia Aging Center und eine führende Forscherin auf dem Gebiet der Weisheitsstudien, weist darauf hin, dass in manchen Kulturen Weisheit eine zentrale Rolle spielt, oft bedingt durch religiöse Einflüsse. Westliche Gesellschaften legen hingegen oft mehr Wert auf Erfolg und individuelle Leistung. Diese Unterschiede beeinflussen stark, wie Weisheit definiert und bewertet wird.

Die Forschung von Dr. Paul Baltes zeigt, dass Weisheit nicht nur ein theoretisches Wissen ist, sondern auch die Fähigkeit einschliesst, sich an verschiedene Lebensumstände und Wertesysteme anzupassen. Menschen, die als weise gelten, zeigen oft eine grössere Toleranz gegenüber unterschiedlichen Ansichten, was ihre Akzeptanz in verschiedenen kulturellen Kontexten fördert. Die Ergebnisse von Grossmann hinsichtlich der Fähigkeit älterer Menschen, Konflikte aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und nach Kompromissen zu suchen, werden auf kulturelle Erziehung und individuelle Lebenserfahrungen zurückgeführt. Diese spiegeln sich oft in persönlichen Werten und kulturellen Normen wider.

Das Robert N. Butler Columbia Aging Center der Universität Columbia (USA) führt interdisziplinäre Studien zum Thema Alter und Gesundheit durch. Das Ziel ist es, Gesundheitsspanne in einer immer älter werdenden Gesellschaft zu verlängern. Es geht um das Wissen darüber, wie das Wohlbefinden in der zweiten Lebenshälfte gestärkt und Langlebigkeit zu einem Vorteil gemacht werden.

Die Herausforderung auf dem Weg zur Weisheit

Reflexion als Schlüssel zur Weisheit

Weisheit ist kein automatischer Begleiter des Alters. Vielmehr ist sie das Ergebnis kontinuierlicher geistiger Anstrengung und der Offenheit für neue Erfahrungen. Staudinger betont, dass der Weg zur wahren Weisheit oft mit Hindernissen gespickt ist, die im Alltag lauern. In unserer hektischen Welt, in der wir oft von den Erwartungen und Konventionen unseres täglichen Lebens eingeholt werden, ist es schwer, die tieferen Aspekte des Lebens zu erkennen und zu verstehen. Wahre Weisheit erfordert eine gewisse Distanz zu den üblichen Denkmustern und eine bewusste Selbstreflexion darüber, wer wir sind und wie wir mit den Herausforderungen des Lebens umgehen.

Von nichts kommt nichts 

Es reicht also nicht aus, einfach nur älter zu werden, um weise zu sein. Man muss sich aktiv bemühen, neue Perspektiven einzunehmen, sich neuen Erfahrungen zu öffnen und aus den eigenen Fehlern und Erfolgen zu lernen. Diese kontinuierliche geistige Anstrengung ist der Schlüssel, um die geistige Flexibilität zu bewahren, die für weise Entscheidungen erforderlich ist. Es ist eine Reise, die nicht immer einfach ist. Man muss bereit sein, aus der Komfortzone herauszutreten und sich den Herausforderungen des Unbekannten zu stellen. Nur so kann man die Einsichten gewinnen, die über die oberflächlichen Antworten des Lebens hinausgehen und zu einem tieferen Verständnis und einer grösseren Toleranz führen.

Innehalten in einer hektischen Welt

In einem Zeitalter, das oft von schnellen Lösungen und oberflächlichen Urteilen geprägt ist, erinnert uns Staudinger daran, dass wahre Weisheit Zeit, Geduld und eine offene Haltung erfordert. Es ist ein Prozess, der uns nicht nur persönlich bereichert, sondern auch dazu befähigt, eine positive Veränderung in unserer Welt zu bewirken.

Also doch nur ein Mythos?

Ältere Menschen haben oft die Fähigkeit entwickelt, Konflikte aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, Kompromisse anzustreben und die Unsicherheiten des Lebens besser zu akzeptieren. Diese Eigenschaften gelten als wichtige Merkmale von Weisheit, die sich mit zunehmendem Alter entwickeln können.

Insgesamt zeigt die Forschung jedoch, dass Weisheit ein komplexes Konstrukt ist, das nicht nur mit dem Alter, sondern auch mit Lebenserfahrung, Selbstreflexion und einem breiten Verständnis für die Ambivalenzen des Lebens verbunden ist. Die Fähigkeit, kluge und ausgewogene Entscheidungen zu treffen sowie Konflikte zu lösen, ist ein Kernmerkmal von Weisheit, das sowohl individuell als auch gesellschaftlich von grosser Bedeutung ist – was sich jedoch trainieren und entwickeln muss und keinesfalls eine selbstverständliche Begleiterscheinung des Alterns darstellt.

Wenn wir also über Altersweisheit sprechen, sollten wir uns bewusst sein, dass sie nicht nur ein Privileg des Alters ist, sondern ein Ziel, das durch fortlaufende persönliche Entwicklung und geistige Beweglichkeit erreicht werden kann.

(SR)

 

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