Sexualität ist ein elementarer Bestandteil des menschlichen Lebens, der jedoch im Kontext von Pflegeheimen oft vernachlässigt oder tabuisiert wird. Während Grundbedürfnisse wie Essen, Trinken und Schlafen vergleichsweise leicht adressiert werden können, stellt die Befriedigung des Bedürfnisses nach Nähe und Intimität im Pflegeheim eine komplexe Herausforderung dar.
Im Alter bleiben die Bedürfnisse nach Nähe und Intimität bestehen, doch die Umstände ändern sich möglicherweise aufgrund von körperlichen Einschränkungen oder dem Verlust des Partners. Trotzdem sehnen sich ältere Menschen nach Zärtlichkeit, Berührung und gegebenenfalls auch nach sexueller Aktivität. Dabei können auch neue Beziehungen im Pflegeheim entstehen, die ein Bedürfnis nach Intimität und Gemeinschaft hervorrufen.
Herausforderungen in der Pflege
Die Anerkennung und Unterstützung sexueller Bedürfnisse im Pflegeheim stellen eine Herausforderung dar. Besonders bei Menschen mit Demenz können die Einschätzung und Erfüllung dieser Bedürfnisse schwierig sein, da eine klare Kommunikation oft fehlt. Die Professionalität der Pflegenden steht dabei im Spannungsfeld zwischen Wahrung der Würde und Autonomie der Bewohner:innen und der Gewährleistung einer angemessenen Pflege.
Sexuelle Übergriffe und Herausforderungen für das Pflegepersonal
Die Betreuung älterer Menschen im Pflegeheim erfordert nicht nur Sensibilität und Einfühlungsvermögen, sondern stellt das Pflegepersonal oft vor schwierige Situationen – insbesondere im Umgang mit sexuellen Bedürfnissen und möglichen Übergriffen.
Die Einrichtung eines Pflegeheims ist für viele Bewohner:innen ein neuer Lebensabschnitt, der mit Veränderungen und Unsicherheiten einhergeht. In dieser Umgebung können Scham, Verleugnung und erotische Sehnsucht zu einer komplexen Gemengelage führen. Insbesondere Bewohner:innen mit Demenz können aufgrund von Orientierungsverlust und verändertem Verhalten eine erhöhte Tendenz zu unangemessenem Verhalten zeigen.
Sexuelle Übergriffe gegenüber dem Pflegepersonal sind keine Seltenheit und können vielfältige Ursachen haben. Es kommt vor, dass Bewohner:innen aufgrund von Erkrankungen ein übergriffiges Verhalten an den Tag legen. Auch kann die emotionale und körperliche Verwundbarkeit zu grenzüberschreitendem Benehmen führen. Es gibt Bewohner:innen, die sich möglicherweise nicht mehr angemessen ausdrücken oder ihr Verhalten angemessen kontrollieren. Solche Situationen sind für das Pflegepersonal herausfordernd.
Für interessierte Leser
Studien von Bouman (2007) und Bauer (2013) enthüllen eine Vielzahl von Meinungen und Handlungsweisen im Umgang mit dem Thema Sexualität in Pflegeheimen. Während einige Pflegekräfte locker und offen für Diskussionen sind, halten andere das Thema lieber fern. Diese Vielfalt spiegelt persönliche Überzeugungen, Erfahrungen und die allgemeine Atmosphäre in der Einrichtung wider.
Reaktion auf die Sexualität von Bewohnern
Für das Pflegepersonal gibt es unterschiedliche Massnahmen, um auf die Sexualität der Bewohner:innen zu reagieren. In der Regel kommt es zu einer Besprechung im betroffenen Team. Das betreuende Pflegepersonal kennt die Bewohner:innen am besten, was eine individuelle Betrachtung eines Vorfalls möglich macht. Wenn möglich werden die Angehörigen sowie der oder die betroffene Bewohner:in in die Lösungsfindung miteinbezogen. Die Idee ist grundsätzlich, dass ein Weg gefunden wird, der für alle Beteiligten stimmt. Es kann auch vorkommen, dass ein grösserer Kreis an Pflegepersonal hinzugezogen wird, um die Situation zu klären.
Die Herausforderungen des Themas
Die Unsicherheit im Umgang mit dem Thema Sexualität im Alter liegt darin, dass es oft wenig Raum für offene Diskussionen oder Weiterbildungen gibt. Obwohl die Pflegenden die Wichtigkeit der Alterssexualität verstehen und unterstützen möchten, gibt es oft eine gewisse Ambivalenz. Gefühle wie Scham, Ekel und Unwohlsein können auftreten und führen manchmal sogar dazu, dass das Pflegepersonal sexuelle Aktivitäten von Bewohner:innen verbietet, um sich selbst vor unangenehmen Gefühlen zu schützen.
Schlussendlich ist es jedoch die Aufgabe von Pflegeheimen, einen Rahmen zu schaffen, wo über Sexualität gesprochen werden kann. Des Weiteren gibt es bereits Pflegeheime, die über Räume verfügen, wo intime Momente gelebt werden können.
Die Suche nach Veränderung
Um die unterschiedlichen Herausforderungen zu Sexualität im Alter anzugehen, werden eine verstärkte Offenheit sowie Schulungen zum Thema empfohlen. Durch offene Diskussionen und Schulungen könnten Vorurteile abgebaut und eine unterstützende Umgebung geschaffen werden, in der ältere Menschen ihre Sexualität akzeptiert und respektiert fühlen. Es ist wichtig, dass Pflegenden die Möglichkeit haben, ihre eigenen Unsicherheiten zu reflektieren und Unterstützung dabei erhalten, angemessen auf die sexuellen Bedürfnisse älterer Menschen einzugehen.
Sexualassistenz: Eine einfühlsame Lösung für komplexe Bedürfnisse
Wenn Bewohnende Bedürfnisse zeigen, die über blosse Zuneigung hinausgehen, ist es für Pflegenden oft schwierig, auf diese einzugehen. Hier kommt die Sexualassistenz ins Spiel – ein sensibler Ansatz, der darauf abzielt, die Bedürfnisse älterer Menschen zu erfüllen, ohne ihre Würde zu verletzen.
Nina de Vries, eine erfahrene Sozialarbeiterin und Sexualassistentin, erklärt den Prozess einfühlsam: «Sexualassistenz geht ganz langsam an Menschen ran, mit sehr viel Fingerspitzengefühl und Behutsamkeit.» Sie beginnt mit einfachen Gesprächen und schafft eine vertrauensvolle Atmosphäre, bevor sie mit ihrer Arbeit beginnt. Ihre Dienste reichen von erotischer Massage bis hin zu Zärtlichkeiten und Geschlechtsverkehr – je nach den Bedürfnissen des Einzelnen.
Reaktionen von Angehörigen sind gemischt
Die Reaktionen auf die Dienstleistungen einer Sexualassistenz sind gemischt. Während einige Familien dankbar für die Unterstützung sind, reagieren andere mit Ablehnung. Manche betrachten die Sexualassistenz als unangemessenen Luxus, während gewisse sie als notwendige Hilfe ansehen. «Es ist wichtig, dass die Menschen verstehen, dass es nicht nur um Geld geht», betont Nina de Vries.
Die Arbeit der Sexualassistenz kann tiefgreifende Auswirkungen haben: Nicht nur können ältere Menschen dadurch entspannen und sich geborgen fühlen, sondern auch das Pflegepersonal profitiert davon. Denn Bewohner:innen seien dadurch oft ansprechbarer und entspannter.
Ein wichtiger Schritt zur Würde des Menschen
Insgesamt zeigt sich, dass die Ermöglichung von Sexualität im Pflegeheim nicht nur das individuelle Wohlbefinden der betroffenen Personen verbessert, sondern auch zu einer positiven und unterstützenden Atmosphäre in Pflegeeinrichtungen beiträgt.
Studien und Erfahrungsberichte zeigen, dass ältere Menschen, denen die Möglichkeit geboten wird, ihre Sexualität auszuleben, oft ruhiger, ausgeglichener und geselliger werden. Indem ihre Bedürfnisse respektiert und unterstützt werden, fühlen sie sich verstanden und akzeptiert. Dies kann dazu beitragen, Stress abzubauen und das allgemeine Wohlbefinden zu steigern. Wenn ältere Menschen ihre sexuellen Bedürfnisse auf angemessene Weise ausleben können, besteht weniger Druck, unangemessene Annäherungsversuche zu unternehmen oder Grenzen zu überschreiten.
Es ist wichtig, dass über Sexualität im Alter und in Pflegeheimen gesprochen wird. Älteren Menschen soll die Möglichkeit geboten werden, ihre Sexualität auf respektvolle und würdevolle Weise auszuleben und zu erleben.
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