Das Sprechen über gemeinsame Erfahrungen, Erinnerungen oder Sorgen ist essenzieller Bestandteil des menschlichen Lebens. Eine Demenzerkrankung kann die Sprechfähigkeit jedoch stark beeinträchtigen, was zu Schwierigkeiten in der Kommunikation führt. Wie es dennoch möglich ist, Menschen mit Demenz in ein Gespräch zu integrieren und sie so vor der sozialen Isolation zu bewahren, erfahren Sie in diesem Artikel.
Sprache ist ein soziales Konstrukt. Sie hilft uns, soziale Beziehungen zu pflegen und unsere Identität zum Ausdruck zu bringen. Manche Sprachwissenschaftler sagen sogar, dass Sprache unter anderem aufgrund unseres Bedürfnisses nach Klatsch und Tratsch entstanden sei. Das Erzählen von Geschichten über sich und andere war eine Strategie, um Bindung herzustellen und Beziehungen zu sichern – etwas, das vor geraumer Zeit einen evolutionären Vorteil bedeutete.
Grundlegendes menschliches Bedürfnis
Miteinander sprechen zu können scheint also im tiefsten Innern des Menschen verankert zu sein. Sich mitzuteilen, angehört zu werden und etwas zur Gemeinschaft beizutragen ist ein essenzieller Bestandteil des Menschseins – ein Grundbedürfnis schlechthin. Was aber geschieht, wenn das sich Mitteilen immer schwieriger wird oder gar gänzlich verschwindet? Zum Beispiel bei einer Demenzerkrankung. Sie macht es Betroffenen immer schwieriger, sich sprachlich auszudrücken.
Was ist Demenz?
In unserem Online-Magazin finden Sie verschiedene Artikel rund um das Thema Demenz:
Die Wichtigkeit sprachlicher Ressourcen verschiebt sich
Es dürfte allgemein bekannt sein, dass Menschen mit Demenz Dinge vergessen, immer wieder dieselben Dinge fragen oder den Weg nach Hause nicht mehr finden. Weniger bekannt ist jedoch der Einfluss der Demenz auf die Sprache der Betroffenen und somit auf eines der wichtigsten Mittel zur Pflege sozialer Beziehungen.
Denn aufgrund der kognitiven Veränderungen im Gehirn, verändert sich die Beziehung von Menschen mit Demenz zur Sprache. Das heisst, dass Menschen mit einer Demenzdiagnose zunehmend Mühe haben, Dinge zu benennen. Ihnen fallen Wörter nicht mehr ein oder sie können die Verbindung von Wort und dessen Bedeutung nicht mehr herstellen. So kann es sein, dass beispielsweise die Fernsehbedienung mit dem Telefon verwechselt wird, oder vage Formulierungen wie «das» gebraucht werden, um der genauen Bezeichnung für einen Gegenstand auszuweichen. Die verbale Ausdrucksweise wird allgemeiner, um genaue Definitionen zu vermeiden. Auch kommt es vor, dass Menschen mit Demenz neue Wörter erfinden, oder das Gemeinte einfach umschreiben.
Man spricht in diesem Zusammenhang auch von Aphasie – also dem Verlust sprachlicher Fähigkeiten beim Verstehen oder Sprechen infolge einer Erkrankung im Gehirn. Aufgrund der Aphasie rückt die verbale Sprache mehr und mehr in den Hintergrund, während paraverbale und non-verbale Sprachelemente deutlich wichtiger werden.
Kommunikationskanäle
- Die verbale Kommunikation ist das effektiv gesprochene Wort. Also das, was man sagt. Hierbei spielt auch die Art und Weise eine Rolle. Zum Beispiel die Verwendung von Fachwörtern oder Umgangswörtern.
- Paraverbale Kommunikation beinhaltet all das, was mit der Stimme zu tun hat. Also Stimmlage, Lautstärke, Aussprache, Betonung, Sprechtempo, etc.
- Bei der non-verbalen Kommunikation geht es um den Ausdruck des Körpers. Mimik (z.B. Hochziehen der Augenbrauen), Gestik, Körperhaltung, Blickkontakt
Die Interaktion wird auf die Probe gestellt
Der Verlust von Sprache bedeutet, dass das Führen von alltäglichen Unterhaltungen oder das Erzählen von Geschichten bei fortschreitender Erkrankung nach und nach schwerfällt. Menschen mit Demenz können einer komplexen Diskussion nicht mehr folgen oder es fällt Aussenstehenden schwer, die Formulierungen dieser Menschen nachzuvollziehen.
Die Schwierigkeit, sich mit anderen zu verständigen oder die Unfähigkeit, Gesprächen zu folgen, kann dazu führen, dass sich Menschen mit Demenz zurückziehen, um unangenehmen Situationen aus dem Weg zu gehen. Gleichzeitig kommt es vor, dass sie von Angehörigen oder Aussenstehenden nicht mehr in Gespräche integriert werden. Nicht selten kommt es dadurch zu sozialer Isolation.
Verschiebung der Ausdrucksweise
Obwohl die verbale Kommunikation für Menschen mit Demenz zunehmend schwierig wird, heisst das nicht, dass sie verstummen. Normalerweise bedeutet der Sprachverlust nämlich, dass andere sprachliche Ressourcen in den Vordergrund geraten: Mimik, Gestik, Berührungen oder Lautäusserungen. Eine Kommunikation ist also auch mit Menschen im fortgeschrittenen Demenzstadium möglich ist – man muss nur wissen wie. Wie Gespräche mit Menschen mit Demenz ausschauen können, hat der Sozialpsychologe Lars-Christer Hydén untersucht.
Ein wichtiger Hinweis, wenn es um Gesprächsführung mit Menschen mit Demenz geht, ist, dass die degenerative Krankheit das Kurzzeitgedächntis zwar erheblich beeinträchtig, das Langzeitgedächtnis aber mehr oder weniger erhalten bleibt. Das bedeutet, dass Demenzbetroffene zwar nicht mehr über aktuelle Weltgeschehnisse sprechen, meistens aber ziemlich problemlos aus ihrer Vergangenheit erzählen können. Dies auch dann, wenn der Verlust der Sprache dazu führt, dass sie sich nicht mehr sprachlich ausdrücken können. Das Erzählen findet dann über andere Kommunikationskanäle statt.
In seiner Studie «Storytelling in dementia» aus dem Jahr 2013 hat sich der Schwede Lars-Christer Hydén mit den sogenannten «performativen Aspekten» von Erzählen befasst. Das heisst, dass er den Fokus nicht auf den Inhalt einer Geschichte legte, sondern auf die Art und Weise, wie die Geschichte erzählt wurde. Hydén begründet seinen Fokus folgendermassen: Wenn man sich auf die Inhalte einer Geschichte konzentriert, würden Menschen mit Demenz weniger kompetent wirken, als sie es eigentlich wären. Verschiebt man den Fokus jedoch auf die Art und Weise des Erzählens – die sogenannte Erzählsituation – und darauf, wie eine Person mit Demenz mit anderen Gesprächsteilnehmern interagiert, dann wird deutlich, wie gesprächsfähig Menschen mit Demenz tatsächlich sind.
Hydén sieht das Geschichtenerzählen also als kollaborative Handlung, bei der Menschen mit Demenz, gemeinsam mit zum Beispiel dem Ehepartner, eine Geschichte erzählen.
Erzählen als kollaborative Handlung: Die Eckdaten
- Gesprächteilnehmende eines konversationellen Erzählens sind physisch präsent zueinander (face-to-face)
- Die Teilnehmenden stehen/sitzen sich gegenüber und können ihren Körper somit als «kommunikative Ressource» brauchen (z.B. gestikulieren).
- Der Einsatz des Körpers zum Erzählen wird auch als embodied storrytelling ‘verkörpertes Erzählen‘ bezeichnet.
- Menschen mit Demenz brauchen «verkörperte» Ressourcen, um ihre Geschichten zu erzählen. Vor allem dann, wenn die Sprachfähigkeit begrenzt oder gar nicht mehr vorhanden ist.
Ein Teil der Studie Hydéns war die Analyse eines Interviews mit einem Ehepaar – nennen wir sie Henrik und Lotta. Henrik und Lotta sind seit knapp 50 Jahren verheiratet und mittlerweile ist Henrik an Demenz erkrankt. Im Interview mit Hydén erzählte das Ehepaar eine gemeinsam erlebte Geschichte aus seiner Vergangenheit. Dabei ging es vor allem um das gemeinsame Erzählen und Erinnern, nicht um den eigentlichen Inhalt der Geschichte.
Die Verschriftlichung des Interviews zeigt, dass Lotta grundsätzlich diejenige ist, die den Rahmen der Geschichte vorgibt. Mit gezielten Fragen oder Ergänzungen zu den Äusserungen ihres Ehemanns trägt sie dazu bei, dass Henrik aktiver Teilnehmer des Erzählens ist. Henrik hat eindeutig Schwierigkeiten damit, seine Erinnerungen in Worte zu fassen. Infolgedessen passt er seine Beschreibungen an und umschreibt das, was er eigentlich sagen wollte, mit anderen Worten. Gleichzeitig ergänzt er seine Äusserungen mit Gesten. So erzählt er von einem Segelausflug, wobei ihm die genauen Bezeichnungen für die Bewegung des Bootes entfallen. Er sagt beispielsweise «das Boot machte so.», während er mit den Händen gestikuliert, wie das Boot sich drehte. Aufgrund der gemeinsamen Erinnerung wird es Lotta möglich, Henrik bei der Wortfindung zu helfen, oder seine für Aussenstehende vage erscheinenden Äusserungen zu paraphrasieren. Gleichzeitig geht sie aktiv auf Henrik ein und macht ihn zu einem kompetenten Element des Gesprächs.
Am Schluss der aufgenommenen Unterhaltung schreiben Lotta und Henrik sich gegenseitig Fähigkeiten zu («Du konntest sehr gut mit dem Boot umgehen», «Du aber auch»), was ein Ausdruck von Wertschätzung ist und als Beziehungsarbeit gesehen werden kann. Der Akt des gegenseitigen Lobens macht deutlich, dass auch Menschen mit Demenz sich auf andere Personen beziehen können und ihnen sowohl Bindung als auch soziale Beziehung wichtig ist.
Die «kreativen Problemlöser» erzählen lassen
Gesprächsführung mit Menschen mit Demenz ist also durchaus möglich. Wenn Menschen mit Demenz Geschichten erzählen dürfen oder in Gesprächen auf sie eingegangen wird, fühlen sie sich wichtig und wertgeschätzt. Dass Menschen mit Demenz soziale Beziehungen brauchen, hat auch die amerikanische Gerontologin Naomi Feil erkannt. Ihre Methode der Validation beruht auf der Überzeugung, dass Menschen mit Demenz sich nie zufällig so verhalten, wie sie es tun. Feil betrachtete Menschen mit Demenz in jedem Augenblick als «valid» (gültig) und betrachtete die Äusserungen oder Aktionen der an Demenz erkrankten Person stets als Teil der Bindungsherstellung.
Feils Herangehensweise zeigt, dass Menschen mit Demenz bis zum Schluss sehr gut darin sind, eine Beziehung zu ihrem oder ihrer Gesprächspartner:in herzustellen. Aufgrund ihrer Erkrankung sind sie jedoch gezwungen, auf andere sprachliche Ressourcen auszuweichen – genau gesehen sind Menschen mit Demenz also kreative Problemlöser: Sie finden einen anderen Weg, ihre Bedürfnisse mittzuteilen.
10 Tipps für die Kommunikation mit Menschen mit Demenz
- Achten Sie darauf, dass Sie sich während dem Gespräch frontal vor der Person mit Demenz befinden – so, dass Sie in ihrem Sichtfeld sind.
- Suchen Sie den Blickkontakt und lächeln Sie die Person an.
- Sprechen Sie ruhig, langsam und deutlich.
- Bilden Sie kurze und einfache Sätze, die nur eine Aussage oder Frage enthalten.
- Stellen Sie Fragen, die sich mit Ja oder Nein beantworten lassen.
- Hören Sie der Person aufmerksam zu und nehmen Sie deren Aussagen ernst.
- Korrigieren Sie falsche oder unverständliche Aussagen nicht.
- Nehmen Sie die Anliegen und Gefühle der Person mit Demenz ernst.
- Nehmen Sie mögliche Anschuldigungen nicht persönlich.
- Bleiben Sie ruhig und vermeiden Sie Hektik.
Mehr Informationen finden Sie online bei Alzheimer Schweiz.
Interaktion ist bis zum Schluss möglich
Menschen mit Demenz haben genauso das Bedürfnis, soziale Beziehungen herzustellen und ihre Erfahrungen und Meinungen mitzuteilen. Sowohl die Erkenntnisse von Lars-Christer Hydén als auch die von Naomi Feil entwickelte Methode zeigen, dass es durchaus Möglichkeiten gibt, sich mit Menschen mit Demenz zu unterhalten – und zwar bis ganz zum Schluss.
Wichtig ist, dass Sie sich nicht entmutigen lassen, wenn ein Gespräch mit einer Person mit Demenzdiagnose nicht so verläuft, wie Sie sich das vorgestellt haben. Gesprächsführung mit Menschen mit Demenz braucht viel Geduld, Verständnis und auch etwas Übung. Es kann hilfreich sein, wenn Sie die Person mit Demenz nach einem Erlebnis in der frühen Vergangenheit fragen. Hören Sie aufmerksam zu, helfen Sie, Wörter zu finden und stellen Sie konkrete Fragen – der Fokus sollte auf der zwischenmenschlichen Beziehung, und nicht auf der eigentlichen Geschichte liegen.
Geben Sie sich Zeit
Mit etwas Geduld, Verständnis und spezifischen Strategien können Sie durchaus ein Gespräch mit Menschen mit Demenz führen. Geben Sie sich etwas Zeit, sich an die neue Gesprächsführung zu gewöhnen und zu akzeptieren, dass ihr Gegenüber womöglich nicht die Art von Konversation führen kann, die Sie sich wünschen. Und vergessen Sie nicht: Menschen mit Demenz bleiben Menschen, egal, wie weit fortgeschritten die Demenz ist. Sie haben, wie wir alle, das Bedürfnis, angehört zu werden und sich mitzuteilen. Als aufmerksame:r und verständnisvolle:r Zuhörer:in helfen Sie also mit, dass Menschen mit Demenz ein aktiver Teil der Unterhaltung und der Gesellschaft bleiben.
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